Erst kommt die Moral, dann das Essen
Erst kommt die Moral, dann das Essen
Diskussionsveranstaltung mit Friedrich Schorb
Wie kaum ein zweites Thema wird unser Essverhalten moralisch aufgeladen und für gesellschaftliche Fehlentwicklungen verantwortlich gemacht. Dies geschieht nicht selten aus einer oberflächlich betrachtet grün-progressiven Positionierung. An erster Stelle steht dabei der behauptete Zusammenhang von Ernährung und Gesundheit. Im Kontext der Rahmung von Gesundheit als Ausweis moralischer Tugendhaftigkeit und individueller Selbstverantwortung werden Konsumentscheidungen, allen voran eine diskursiv als falsche gerahmte Ernährungsweise, zur zentralen Ursache gesundheitlicher Ungleichheit erklärt. Diese healthistische Instrumentalisierung von Ernährungsvorlieben befördert Body- und Fatshaming, dient als Argument für Privatisierungen im Gesundheitsbereich und lenkt vom wachsenden Problem der Ernährungsarmut ab. Eine vergleichbare Haltung findet sich auch im Diskursfeld der Nachhaltigkeit. Hier werden, ebenfalls über den Nahrungskonsum, die Verantwortung für ökologische Probleme wie Umweltverschmutzung, Artensterben und Klimawandel individualisiert. Auch hier stehen demnach nicht ökonomische und gesellschaftspolitische Entwicklungen, sondern die individuelle Verantwortung der Konsument*innen im Mittelpunkt der Problematisierung. Die einzige diskursiv wahrnehmbare Gegenposition zur Moralisierung von Ernährung wird durch eine libertär-reaktionäre Haltung charakterisiert, die ein Recht auf billiges Fleisch behauptet, und damit tatsächlich das Recht der unregulierten Ausbeutung von Mensch, Tier und Natur durch globale (Lebensmittel-)Konzerne meint. Der Vortrag diskutiert, wie eine Alternative zur dominanten Rahmung der gesellschaftlichen Diskussion um die Themen Essen und Ernährung aussehen könnte, die weder individuelle und kollektive Ernährungsvorlieben moralisiert , noch einer tumben Anti-PC-Agenda das Wort redet.
Friedrich Schorb ist Soziologe und befasst sich mit Ernährungsfragen, dem gesellschaftlichen Umgang mit Körperfett sowie mit Sozialer Ungleichheit und deren Auswirkungen auf Gesundheit. Veröffentlichung zuletzt: Fat Studies. Ein Glossar, Bielefeld 2022.
Eine Veranstaltung des Kulturzentrum Kukoon.